Inspiriert durch Müll, Krimskrams und Klopapier
Inspirationen für meine Leseanimationen finde ich selten am Schreibtisch. Meistens kommen meine Ideen unterwegs oder vor dem Einschlafen. Oft auch durch das Beobachten meiner eigenen Kinder. Besonders gerne lasse ich mich durch Material inspirieren. Manchmal beschleicht mich das Gefühl, dass ich die Welt durch eine besondere Brille betrachte. Keine rosa Brille, aber die «Könnte mir das vielleicht für eine Leseanimation nützlich sein?»-Brille.
So würde Otto Normalverbraucher bestimmt das Verpackungs-Material eines Pakets entsorgen; ich aber bin hell entzückt und erblicke in der etwas sperrigen Styroporform eine Kamera. Genau, ich werde sie schwarz anmalen und mit einem schwarzen Band versehen, dann wird das bestimmt eine super coole Old-style-Kamera.

Da ich aber momentan kein Bilderbuch habe, für das ich Bedarf einer solchen Kamera hätte, kommt die Verpackung erstmal in Rohform in meine Krimskrams-Kiste. Dort liegt sie nun eine Weile bis mir tatsächlich etwas später ein wunderbares Bilderbuch «Meine Freunde, das Glück und ich» von Elisienda Roca und Rocio Bonilla in die Hände fällt und voilà: die Pratogonistin hält eine Kamera in der Hand.
Fotografieren ist das Hobby dieses Mädchens und am Schluss des Buches sieht man ein Foto ihrer Freunde. In diesem Buch wird Diversität in Bezug auf Herkunft, Familienformen, Berufe so selbstverständlich dargestellt, als wären Diskussionen darüber überflüssig.

Ich gestalte den Einstieg mit realen Fotos aus verschiedenen Helvetas-Kalender-Bildern, die ich ebenfalls zum Thema Diversität auswähle. Unter diesen realen Fotos hat sich das «Foto-Bild» aus dem Buch versteckt. So wird Neugierde geweckt, die abgebildeten Kinder und ihre Geschichten im Buch zu entdecken. Durch die Styropor-Kamera können die Kinder selber einen flüchtigen Augenblick lang ein imaginäres Foto festhalten.

Aus einer alten Schachtel, die schon von sich aus «Fenster» hat, da so die bestellte Ware befestigt wurde, fertige ich die Häuser für meine Kulisse an. Auch diese Schachtel lag schon in der besagten Kiste, da mir diese «Fenster» sogleich aufgefallen sind.

Ehrlicherweise muss ich sagen, dass nicht alle Familienmitglieder gleichermassen begeistert sind von so viel herumliegendem Material. Auch ich bin nicht immer so glücklich, wenn meine Kinder voluminöse «Schätze» am Tag der Altkartonsammlung nach Hause schleppen. Und doch glaube ich, dass aus Chaos viel Kreativität entsteht. Dies soll kein Plädoyer für Chaos sein, eher eine Einladung dafür, den Blick zu schärfen, wie wir wertlosem Material ein zweites Leben einhauchen können.
Manchmal ist es tatsächlich auch so, dass mir durch das Material die Idee für eine Geschichte kommt. Als mir beim Keller aufräumen zwei kleine Stofftier-Affen (Papa und kleiner Affe) in die Hände fallen, mache ich im Geiste gleich den Link zu «Wo ist Mami?» von Alexander Scheffler und Julia Donaldson. Und als ich bei der Recherche dazu sehe, dass es Kamishibai-Bildtafeln dazu gibt und mich der Humor dieser Geschichte anspricht, steht meine Entscheidung für die nächste Leseanimation.

Das Buch «Stein für Stein» von Giuliano Ferri habe ich für das Bibliotheksweekend mit dem Motto «Sprache verbindet Welten» ausgewählt. Bei diesem silent book mit seiner starken Botschaft des Miteinanders spielt eine Mauer eine wesentliche Rolle. Die Tiere kommen auf die Idee mit den Mauer-Steinen, die sie Stein für Stein abgebaut haben, eine Brücke zu bauen, um über das Wasser zu gelangen, das sie voneinander trennt. Eine Mauer mit herausnehmbaren Steinen sollte es also für die Kulisse sein.
Nun blieb ich eine Weile beim «wie?» hängen. Zündholzschachteln schienen mir zu klein und Schuhschachteln zu sperrig. Da ich mit dieser Frage gerade nicht weiter kam, schlummerte sie weiter in meinem Hinterkopf. Und dann kam ganz unerwartet die Lösung. Ich hatte nach dem Einkauf ein paar Dinge im Flur bereitgestellt, um sie später in den Keller zu tragen. Als ich nach kurzer Zeit im Büro zurückkam, war ich ganz erstaunt. Mein Sohn sass mitten in einem Meer aus Klopapierrollen und begann diese vertieft aufeinander zu stapeln. Natürlich am praktischsten Ort, sodass der Zugang zu Küche und Wohnzimmer versperrt wurde. Ich wunderte mich, dass er auf diese Idee gekommen ist, denn eigentlich ist er längst aus dem Alter raus in dem alles Material neu entdeckt wird. Aber gleichzeitig machte es bei mir «Bling!»: Das sind die Bausteine für meine Mauer. Die WC-Rollen haben eine prima Grösse für Kinderhände und sind in jedem Haushalt vorhanden. Die Kinder können also ohne weiteres mit ein paar Plüschtieren und den WC-Rollen die Handlung zu Hause nachspielen und vertiefen. Dieser Aspekt gefällt mir ebenfalls an einfachem Material: die Kinder werden zum Basteln angeregt, ohne dass man erst noch in einem Bastelladen etwas dafür kaufen muss.

Silja Schindler