6. Dezember 2021
Im Winterwald hinter den sieben Hügeln ist es so früh am Morgen meistens ruhig. Heute jedoch hört man Hufgetrappel, Scharren und Schnauben. Sind da Hirsche oder Rehe unterwegs? Schlagen wir uns durchs Dickicht, immer den Geräuschen nach.
Da! Auf einer kleinen Waldlichtung stehen drei Rentiere, stecken die Köpfe zusammen und lachen laut. «Hat er wohl schon bemerkt, dass wir weg sind?», blökt eines. «Das war jetzt ein megacooler Move!», grinst das zweite. Das dritte bemerkt schadenfroh: «Geschieht ihm voll recht – er meint, er sei der Grösste, dabei ist er ohne uns verloren.» – «Der Grösste, ha ha! Auch er hat ganz klein angefangen – als Coca-Cola-Werbung nämlich – aber darüber spricht er natürlich nie.» – «Logisch, das ist ihm doch peinlich!» Eines der Rentiere lehnt sich lässig gegen einen Fichtenstamm, ein anderes hat sich auf den weichen Waldboden gefläzt, das dritte bohrt mit einem Vorderhuf in seiner Nase.
Nun ist ein leises Bimmeln zu hören. Zwischen den Baumstämmen blitzt etwas Rotes auf. Die Rentiere starren alle drei in diese Richtung. «Hat der uns so schnell gefunden?», murmelt das grösste von ihnen unsicher. «Sicher wegen dir und deiner roten Lampe im Gesicht, Rudolph!», knurrt das mit dem schrägen Geweih vorwurfsvoll. «Das ist nicht der Santa Claus», meint Rudolph, «sondern einer, der sich als Santa verkleidet hat.» – «So eine miese Verkleidung!» – «Ausserdem ist der Typ viel zu dünn!» – «Und viel zu gross!» – «Und viel zu bleich!»
Inzwischen ist die rotgekleidete Gestalt auf der Waldlichtung angekommen. Es ist der gute, alte Nikolaus, der sich für seinen Besuch bei den Kindern fein gemacht hat und den roten Mantel trägt. Am Zügel führt er seinen Esel, schwer beladen mit prall gefüllten Jutesäcken. Verwundert schaut er die drei Rentiere an, sie glotzen zurück. Eines fragt: «Hey Mann, was willst du?», ein anderes: «Deine Verkleidung ist im Fall grottenschlecht!» Der Nikolaus runzelt irritiert die Stirn. «Guten Morgen», sagt er. «Euch habe ich in meinem Wald noch nie gesehen. Wer seid ihr denn, und woher kommt ihr?» – «Rudolph» – «Hans» – «Richard. – Wir kommen von weit her, aber wir dürfen niemandem erzählen, woher genau.» Der Nikolaus hebt eine Augenbraue und schaut die drei Rentiere nachdenklich an. «Und, ist euch nicht kalt hier im Wald, so ganz ohne Schutz und Stall?» fragt er. «Nöö, am Nordpol ist es ja noch viel kälter!», platzt Richard heraus. «Psst!», zischt Hans. Rudolph meint: «Doch, ich friere schon ein bisschen. Die Kälte in diesem feuchten, nebligen Wald ist ganz anders als die bei uns zu Hause.» Der Nikolaus überlegt einen Moment und meint dann: «Hört mal, ihr drei. Ich habe heute wirklich überhaupt keine Zeit für euch, und ich werde sehr spät nach Hause kommen, aber meine Frau ist zu Hause. Bestellt ihr einen Gruss von mir. Sie wird euch den Stall zeigen und Futter geben, und morgen werde ich mich in aller Ruhe mit euch unterhalten. Bis später!» Der Nikolaus und sein Esel setzen ihren Weg durch den Winterwald fort. Die drei Rentiere gucken den beiden sprachlos nach. Nach einer Weile meint Richard: «Voll easy, dieser Typ!», und Hans wundert sich: «Wieso ist der jetzt schon unterwegs? Es ist doch noch längst nicht Weihnachten.» Rudolf bemerkt altklug: «Na ja, andere Länder, andere Sitten.» Dann folgen sie den Fussspuren des Nikolaus zurück bis zu seinem Haus, um bei Frau Nikolaus anzuklopfen.
Eine Weile später lagern die drei auf frischem Stroh im Stall. Sie vertreiben sich die Zeit, indem sie einander von ihren Abenteuern und Heldentaten erzählen. Sie finden einen Bleistiftstummel und üben an der Stallwand, das «Haus vom Nikolaus» in einem Zug zu zeichnen, was nicht so einfach ist, wenn man sich den Stift zwischen die Hufe klemmen muss. Immer wieder kommen sie auf den alten Mann im roten Mantel zu sprechen. Sie rätseln, was es mit ihm wohl für eine Bewandtnis hat.
Aber sie müssen sich bis zum nächsten Tag gedulden. Dann wird ihnen der Nikolaus selber erzählen, was seine Aufgabe ist. Und sie werden gemeinsam das Fotoalbum durchblättern, in dem auch einige Fotos von Onkel Claus sind, der vor über hundert Jahren nach Amerika ausgewandert ist und dort gross Karriere gemacht hat. Aber das wäre wieder eine andere Geschichte.
Die drei frechen Rentiere stammen aus dem Buch «Eins, zwei, drei, Rentier» von Nadja Budde, (ISBN 978-3-7795-0668-3) und der Nikolaus mit dem Esel aus «Wach auf, Siebenschläfer, Sankt Nikolaus ist da» von Eleonore Schmid, das am 1. Dezember schon Thema war.
Franziska Honegger Roth