Weihnachtsfeier für Leseratten

24. Dezember 2020


Eines Morgens hatte Lotta im Laden gestanden. «Eine Weihnachtsfeier ohne Tannenbaum ist keine rechte Weihnachtsfeier!» hatte sie kategorisch erklärt. Armin hatte versucht, ihr klar zu machen, dass es die reine Verschwendung sei, einen Tannenbaum umzusägen, bloss damit die Partygäste etwas Grünes zum Anschauen hätten. Man müsse bedenken, wie schädlich diese Nadelbaummonokulturen seien, was bei der Bewirtschaftung für chemische Pflanzenschutzmittel in den Boden gelangten und wie viel Wasser so ein Baum brauche. Zudem sei ihm die Wegwerfmentalität rund um die Weihnachtsbaumtradition zutiefst zuwider. Aber Lotta hatte ihm erklärt, es gehe dabei um viel mehr als bloss um «etwas Grünes zum Anschauen». Der Geruch der Tannenzweige vor allem sei unverzichtbar für ein richtiges Weihnachtsfest. Ohne diesen Duft komme einfach keine Weihnachtsstimmung auf. Als die kleine Person mit dem starken Willen schliesslich noch anbot, den Baum eigenhändig vorbeizubringen, konnte Armin nicht nein sagen.

Am Vormittag des 24. Dezembers schleppte sie also den Baum an. Im Hinterzimmer der Buchhandlung stellte sie ihn mit Hilfe ihrer grossen Geschwister auf und gemeinsam schmückten sie ihn auch. Armin hatte nichts damit zu tun. Und das war gut so, denn er war vollkommen beschäftigt mit Glühmost kochen und Geschenke einpacken. Lotta strahlte: «Genau so muss es an Weihnachten riechen!» meinte sie zufrieden.

Wenn du nachlesen möchtest, warum sich Lotta mit Weihnachtsbäumen so gut auskennt, kannst du dies im Buch «Lotta kann fast alles» von Astrid Lindgren tun. Es ist 1977 im Verlag Friedrich Oetinger erschienen (ISBN 978-3-7891-6140-7).

Um Viertel vor vier kommen die ersten Gäste in die Buchhandlung. Um vier Uhr sind der vordere und der hintere Raum rappelvoll. Viele haben etwas mitgebracht: Herr Hoi eine grosse Schüssel seiner beliebten Weihnachtsbonbons, die Bäckerin von nebenan ein Tablett mit Minisandwiches, Saskias Mutter eine Biscuitroulade in Form eines Holzstücks, Herr Bär Meringues, die auf der Zunge zergehen und Schellenurslis Mutter eine Tüte selbstgekochte Nidelzältli. (Sie trägt übrigens ihr rotes, etwas abgetragenes Kleid – über das grüne hat sie sich im letzten Moment Kaffee geschüttet, und obwohl Armin nicht viel Wert auf Äusserlichkeiten legt, wollte sie auf keinen Fall mit einem schmutzigen Kleid an die Feier kommen.) Der Ladentisch ist heute ein Buffet, Armin schenkt seinen Glühmost aus, es riecht nach Zimt und Nelken. Viele Gäste kennen sich gegenseitig und begrüssen sich mit grossem Hallo, andere begegnen sich zum ersten Mal. Die beiden Bären beäugen sich zuerst etwas misstrauisch, merken aber schnell, dass sie sich bestens verstehen. Hugo hat Saskias Brief bekommen und ist zusammen mit seinem Vater und Hund Bernhard aus den Bergen angereist. Milou und Bernhard haben sich seit den Sommerferien nicht mehr gesehen, sind aber sofort wieder ein Herz und eine Seele. Olga hat den Kiosk geschlossen und geniesst es, einmal selber bedient zu werden, Frau Dr. Tapir ist zwar auf Pikett, hofft aber sehr, dass sie und ihr kleiner Sohn Tobi nicht während der Feier gestört werden.

Es wir geplaudert und erzählt, angestossen, getrunken und gegessen, die jüngeren Kinder spielen Verstecken zwischen den Regalen, Wilson Bentley bewundert Lottas Tannenbaum, und die Weihnachtsgans ist hin und weg von den Nidelzältli aus Guarda. Grisou flattert aufgeregt von Bücherregal zu Bücherregal, bis Tobi und Lotta auf die Idee kommen, ihn mit gebrannten Mandeln zu füttern. Jetzt frisst er ihnen aus der Hand. Hugo stupst seinen Vater an: «Schau mal dort! Das ist doch die Kioskfrau aus dem Buch!» Sein Vater dreht sich um: «Ja, genau,» lächelt er, «diese Geschichte habe ich dir schon so oft erzählt, und jetzt sehen wir Olga endlich mal in echt!»

Schliesslich klingelt Armin mit einem Löffel an seine Glühmosttasse. Er bedankt sich bei allen fürs Kommen und für die leckeren Beiträge ans Buffet. Dann liest er eine seiner liebsten Geschichten aus der Kindheit vor: «Die Kurzschlussgeschichte» aus dem etwas in die Jahre gekommenen Buch «Wirklich wahre Weihnachtsgeschichten» von Margret Rettich. (Das wurde übrigens 2017 neu aufgelegt: ISBN: 978-3-7641-5129-4.)

Armin kennt seine Kundschaft gut. Er weiss genau, wer welche Literatur mag, wer sich wofür interessiert, was seine Kunden bereits gelesen haben und was auf ihren geheimen Wunschlisten steht. Wundersamerweise liegt für jeden Gast – sei er auch noch so klein – ein Paket unter dem Baum: Hugo packt ein prächtiges Eulenbuch aus, der Schellenursli staunt, wie viele Nationalparks es auf der Welt gibt und Saskias Mama freut sich über einen französischen Krimi. Das Ferkel kriegt «Das kleine Nein-Schwein» – die Geschichte scheint ihm auf den Leib geschrieben zu sein – und Flurina hält glücklich die ersehnte «Weihnachtsreise» in den Händen.

Schliesslich sind alle Geschenke verteilt. Da liegt unter dem Tannenbaum noch ein einziges einsames Paket. Verwundert bückt sich Armin. Auf der Anhängeetikette steht sein Name in einer ihm unbekannten Schrift. «Von wem ist denn das?» fragt er verwirrt in die Runde, aber niemand hat eine Ahnung.

Armin öffnet das Paket. «Do You Read Me?», ein grosses, schweres, reich bebildertes Buch, das die schönsten Buchhandlungen der Welt zeigt und ihre Geschichten erzählt. Armin blättert, fliegt in Gedanken nach New York und Tokyo, zu Menschen, welche ihre Buchläden genau so sehr lieben, wie er den seinen.

«Do You Read Me?» ist 2020 im Die Gestalten Verlag erschienen (ISBN: 978-3-89955-884-5).

«Oh, welch wunderbares Buch!» ruft er. «Wer hat mir das geschenkt?» Hugo meint: «Bestimmt war es das Christkind!» Saskia sagt: «Oder der Père Noël!» – «Der Weihnachtsmann!» – «Santa Claus!» – «Jultomten!» – «Die Befana!» -«Nein, die war’s nicht, die kommt erst am 6. Januar!», klingt es durcheinander. «Wer auch immer,» meint Armin, «HERZLICHEN DANK! Das war ein wunderbares Weihnachtsfest!»

Und ein wunderbares Weihnachtsfest (mit toller Lektüre) wünschen wir auch all unseren Leserinnen und Lesern!

Franziska Honegger
und das restliche Adventskalenderteam: Marion Arnold, Susi Fux, Sabine Giannoulas, Barbara Schwarz und Eveline Weigand