Das Märchen vom Märchenbuch

20. Dezember 2018


Zu meinen Weihnachtsschätzen gehört das alte Märchenbuch von Wilhelm Matthiessen

Mit euch möchte ich in die Vergangenheit eintauchen und wieder mal das letzte Märchen daraus lesen.

Das Märchen vom Märchenbuch, von Wilhelm Matthiessen, aus dem Buch «Deutsche Hausmärchen» (Im Jahr 1931 verlegt bei Hermann A. Wiechmann in München)
Früher, meine Kinder, da gab es noch keine Märchenbücher. Da gab es bloss Märchen! Und nun ist einmal Winter gewesen. Da sagte die Mutter vom Jägerhaus zu den Kindern: »Kinder,» sagte sie, «was soll euch das Christkind nun bringen in diesem Jahr?» Da sagten die Kinder: »Mutter, Mutter, Mutter, ein Märchenbuch!» Und dann gingen die Kinder ins Bett. Und wie sie schliefen, da hat es klinglingling! gemacht im Wald unter den verschneiten Tannen. Und da ist das Christkind mit seinem Schlitten aus dem Wald gekommen, ist zum Jägerhaus gefahren und hat an das Fenster geklopft. Und die Mutter machte das Fenster auf und sagte: «Guten Abend, schönes Christkind! Willst du nicht hereinkommen und eine Tasse Schokolade trinken?» «Nein,» sagte das Christkind, «dafür hab ich heut keine Zeit! Und ich habe auch gerad im Himmel schon Schokolade getrunken! Nein, Mutter im Jägerhaus, du musst mir nur sagen, was ich den Kindern bringen soll auf Weihnachten!» «Ja,» sagte die Mutter, «die Kinder möchten so gern ein Märchenbuch haben!» «O weh!» sagte das Christkind, «Märchenbücher, die gibt es ja noch gar nicht! Ich will dem Mädel eine Puppenküche bringen und den Buben ein Kasperltheater! Aber, Mutter im Jägerhaus, du kannst einmal bei den Zwergen fragen! Vielleicht haben die ein Märchenbuch!» So sagte das Christkind. Und dann ist es weitergefahren mit seinem Schlitten. Und die Mutter erzählte alles dem Vater. Der sagte: «Dann will ich doch gleich einmal zu den Zwergen gehen. Und als er in den Wald ging, da hat er auf einmal, ganz weit, unter den Tannen ein Licht gesehen. Und er ging zu dem Lichte hin, und da war das Licht ein böser Kobold. Denn es gibt ja auch böse Kobolde! Und der böse Kobold hat auf der Erde gehockt und geleuchtet. «Was hockst du denn da und leuchtest?» fragte der Jäger. «Das geht dich doch nichts an!» fauchte der Kobold. «Doch!» sagte der Jäger, «ich bin der Förster vom Wald und muss wissen, was fremde Leute im Wald tun!» Wie das der böse Kobold hörte, da ist er auf und davongelaufen. Und wo der Kobold gesessen hatte, da lag eine Schaufel auf der Erde. «Gewiss hat der böse Kobold hier etwas in die Erde gegraben!» meinte der Jäger. Und er hat die Schaufel genommen und hat nachgegraben. Ein ganz tiefes Loch hat er gegraben. Und da hat in dem Loch eine eiserne Kiste gelegen. Die holte der Jäger aus dem Loch, und er schaute sie an. «Ei,» sagte er, «das ist ja eine Zwergenkiste!» Denn es hat auf der Kiste gestanden: «Das ist meine Kiste, und ich bin der Zwerg Dohkes Klumpertskluth.» Wie das der Jäger sah, da nahm er die Kiste und brachte sie ins Zwergenhaus. Und die Zwerge sind noch alle wach gewesen. Der eine hat sich die Schuhe geputzt, der andere hat sein Mützchen gebürstet, der dritte hat an seinem Röckchen genäht, der vierte hat mit den Mäusen gespielt, der fünfte hat die Zwergenkatze gestreichelt, der sechste hat die Pfeife geraucht und der siebte hat in der Ecke gesessen und geweint. Das ist der Zwerg Dohkes Klumpertskluth gewesen. Und der Jäger sagte zu ihm: «Warum weinst du denn, Dohkes Klumpertskluth?» Da sagte der Zwerg: «Mir hat der böse Kobold Körich Amuksel meine Zwergenkiste gestohlen im Sommer!» «Ja,» lachte der Jäger, «dann brauchst du jetzt aber nicht mehr zu weinen! Schau mal her!» Und er stellte die Zwergenkiste auf die Erde. «Eben hab ich die Kiste dem bösen Kobold abgenommen!» Wie hat sich da der Zwerg gefreut. Und alle Zwerge freuten sich. Und sie sind um die Kiste herumgetanzt und haben gesungen: «Ei, du liebe Märchenkiste, bist du wieder hier? Wenn ich nur was schönes wüsste, Jäger, um zu schenken dir?» «Ich weiss es, ich weiss es!» sagte der Dohkes Klumpertskluth, schloss die Kiste auf – und was meint ihr wohl? Da lag ein Märchenbuch in der Kiste. Das gab er dem Jäger, und dann schloss er die Kiste wieder zu. Und sagte: «Das ist nämlich eine Zauberkiste! Pass einmal auf!» Und er klopfte an die Kiste und sagte dabei: «Zaubre, zaubre, zaubre mir – hokuspokus – Märchenbuch in dir!» dann machte er die Kiste wieder auf, und es ist wieder ein Märchenbuch daringewesen. Auch das gab er dem Jäger. Der war froh, sagte: «Dankeschön, lieber Klumpertskluth!» und ging nach Hause. Und er packte die Märchenbücher in ein Paket, hat sie an die Post getragen und dem Christkind geschickt. Und Weihnachten, da hat das Christkind jedem ein Märchenbuch gebracht, dem Bub und dem Mädel. Wie haben sich da gefreut die Kinder vom Jägerhaus! Und nun ist das Märchen aus.

Ich hoffe, dass auch auf euch ein tolles Buch wartet. Susi Fux